Gesa Lindemann

Wieviel Ordnung muss sein?

Gesa Lindemann zu den "Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen"

Zur abweichenden Reproduktion kommt es auf jeden Fall, such is life.
Niklas Luhmann
 
Such is life und es wird immer sucher und sucher.
Lotti Huber

Die moderne Zweigeschlechtlichkeit folgt drei unkorrigierbaren Annahmen(1):

1. Eine Person gehört einem und nur einem Geschlecht an.
2. Eine Person gehört einem Geschlecht ein Leben lang an.
3. Das Geschlecht hat eine körperliche Basis, d.h., wenn eine Person in einem Geschlecht lebt, darf ihr Körper nicht dem des anderen Geschlechts ähnlicher sein als dem Körper des Geschlechts, in dem sie lebt.

Transsexuelle verletzen diese Annahmen massiv und fühlen sich zugleich unter dem (Selbst-)Zwang, sie zu bestätigen. Der Zwang zur Bestätigung der unkorrigierbaren Grundannahmen stellt eine stumme, unreflektiert wirkende soziale Kontrolle dar, die die unbeschädigte Existenz der Zweigeschlechtlichkeit sichert. Die "Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen" können als Ausführungsbestimmungen dieser sozialen Kontrolle verstanden werden, die im Kern aus zwei Elementen bestehen: Zwangstherapie und Zwangsoperation. Das Undenkbare: die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts von Transsexuellen.

Bevor ich ausführe, wie die Zwangstherapie der Sicherung der ersten beiden unkorrigierbaren Grundannahmen dient und die Zwangsoperation der Sicherung der dritten, möchte ich meiner Verwunderung Ausdruck verleihen, wie sehr Autoren(2) wie etwa Gunter Schmidt sich für das Anliegen sozialer Kontrolle stark machen.

In den achtziger Jahren sympathisierte Schmidt noch nicht derart obsessiv mit der Notwendigkeit von Ordnung. Zustimmend zitiert er Dostojewski: "Der Mensch ist seiner Anlage nach ein Empörer" (Schmidt 1964: 19). Damals ging es noch um den Trieb. Wenn es allerdings um die Zwänge der Zweigeschlechtlichkeit selbst geht, hat die Sympathie mit den Subversiven ein Ende. Hier muß Ordnung herrschen, hier muß es Standards geben. Warum eigentlich?

Die Verleugnung der Veränderung durch Identität

Eine Person gehört einem und nur einem Geschlecht an, und sie gehört diesem Geschlecht ein Leben lang an. Was ist aber, wenn sich jemand nicht daran hält und sich anschickt, das eigene Geschlecht zu verändern? Dann hat die Veränderung so zu erfolgen, daß sie am Ende nicht stattgefunden haben wird.

(3) Die Zwangstherapie soll genau dies sicherstellen. Es geht darum, in einem längeren Prozeß der Begutachtung bzw. Therapie festzustellen, daß "eine tiefgreifende und dauerhafte gegengeschlechtliche Identifikation" (Becker u. a. 1997:148) bzw. "daß die innere Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts und seiner individuellen Ausgestaltung" (ebd.: 150) vorliegt.

Die "Standards" schweigen sich darüber aus, wann die so beschaffene Identität sich entwickelt hat, es wird nur vage angedeutet, daß sie sukzessiv "in verschiedenen Abschnitten der psychosexuellen Entwicklung" (ebd.: 147) entstanden sei. Die Ausführungen legen verschiedene Möglichkeiten nahe, wie die Grundannahme gerettet werden kann. Solange die psychosexuelle Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, darf jemand seine Identität noch verändern. Wenn er/sie allerdings seine Identität noch verändern kann, ist er/sie nicht transsexuell, denn eine dauerhafte Identität ist noch nicht gegeben. Mit Abschluß der psychosexuellen Entwicklung muß der/die Transsexuelle eine tiefgreifende und dauerhafte Identifikation mit dem Gegengeschlecht entwickelt haben, sonst gilt er/sie nicht als transsexuell im Sinne der "Standards". Damit wird der Fall ausgeschlossen, daß die psychosexuelle Entwicklung z. B. zu einer Identität im weiblichen Geschlecht geführt hat, die betreffende Person - in Übereinstimmung mit ihrem Körper für ein paar Jahre als Frau lebt und dann - warum auch immer - den Wunsch entwickelt, ein Mann zu werden. Die Veränderung einer bestehenden Identität ist nicht vorgesehen. Würde das zugelassen, könnte auch eine mehrfache Geschlechtsveränderung nicht mehr als die Katastrophe gelten, als die sie heute angesehen wird. Warum nur von Frau zu Mann und nicht auch von Frau zu Mann zu Frau zu Mann zu Frau?

Becker u. a. müssen das hochunwahrscheinliche Konstrukt annehmen, daß eine Person weitgehend ganz für sich allein eine Geschlechtsidentität entwickelt. Wenn die Identität die Voraussetzung für die tatsächliche Geschlechtsveränderung ist, muß sie bestehen, bevor die Veränderung stattfindet. Ein Mann muß zuerst eine tiefgreifende und stimmige Identität als Frau entwickelt haben, bevor er eine Frau werden darf. Und das einzig aus dem Grund, weil sie, als sie noch ein Mann war, schon eine (Identitäts-)Frau gewesen sein sollte, denn eine Veränderung darf nicht sein. Ein derartiger Zwang existiert vor allem im Rahmen des klinisch-therapeutischen Umgangs mit Transsexuellen. Erst außerhalb dieser engen Grenzen wird man darauf gestoßen, daß vor der Veränderung des Körpers und einem mehrjährigen Leben im neuen Geschlecht eine konsistente Identität, die diesem Geschlecht entspricht, nicht vorzukommen scheint (vgl. Lindemann 1993: Kap. II, III).

Die Identitätsentwicklung weist eine Komplexität auf, die in den "Standards" prinzipiell ausgeschlossen werden muß. Die Vergangenheit einer transsexuellen Person ist nur noch als gegenwärtig erlebte Dimension präsent. Das gleiche gilt auch für diejenigen, die zur Fremdanamnese hinzugezogen werden. Die gegenwärtige Vergangenheit ist aber abhängig von der Gestaltung der Gegenwart und des gegenwärtigen Zukunftsbezuges. Die Umwandlung des Wunsches in den zu realisierenden Entwurf, das andere Geschlecht zu werden, verändert die Vergangenheit als die durch Erinnerung zugängliche Dimension des eigenen Lebens. Daraus folgt, eine Veränderung des eigenen Lebens schließt eine Veränderung der Vergangenheit ein. Jemand wird das neue Geschlecht, indem er/sie es auch in der Vergangenheit schon gewesen sein wird. Der Prozeß der Veränderung kann deshalb in einem gelingenden Abschluß negiert werden. Erst in biographischen Berichten aus der Zeit nach der akuten Veränderungsphase findet sich die Identität, die Becker u. a. zur Voraussetzung des ganzen Prozesses machen möchten. In der Konstruktion der Biographie wird deutlich, wie stark Transsexuelle es als eine Notwendigkeit erfahren, sich in die unkorrigierbare Annahme der Unveränderbarkeit des Geschlechts einzufügen. Dieser Zwang wird in den "Standards" zum Definiens der Transsexualität. Es wird eine Anleitung zur Beruhigung formuliert. Auch wenn Transsexuelle ihr Geschlecht verändern, muß das niemanden irritieren, denn es wird garantiert, daß sie es nicht verändert haben werden . Zuguterletzt wird lediglich die Geschlechtsrolle an die Identität und der Körper an beide angepaßt.

Wenn es von Sexuologen zuviel verlangt ist, auf die unkorrigierbaren Annahmen ihrer Praxis zu reflektieren, bieten soziologische Arbeiten den Sexuologen als zweite Möglichkeit an, ihre Mitwirkung an der Konstruktion der richtigen Transsexualität anzuerkennen. Hirschauer (1993) beschreibt ausführlich den Kooperationsprozeß, in dem Therapeuten, Gutachter und Transsexuelle voneinander lernen, wie ein richtiger Transsexueller zu sein hat. Becker u. a. schreiben nun in den "Standards" ihre Version des aktuellen Ergebnisses dieser Kooperation auch für Transsexuelle verbindlich fest. Zugleich wird das Ergebnis den Transsexuellen zugeschrieben, es geht angeblich um ihre Eigenschaften, Wünsche und Vorstellungen. Es ist allerdings zweifelhaft, ob dies Verfahren zu mehr "Objektivität" bzw. "Sicherheit" führen wird, denn die ausgegrenzte Subjektivität der Betroffenen wird insofern wieder relevant werden, als sie die "Standards" nicht als Kriterien verstehen müssen, die sie entweder erfüllen oder nicht erfüllen. Transsexuelle können solche Schriftstücke auch als Verhaltensrichtlinien interpretieren, an denen sie sich orientieren sollten, wenn sie ihr Ziel erreichen möchten (vgl. Stone 1991). Die Ausgrenzung der traktierten Subjekte durch ihre Objektivierung in Kriterien läuft auf ein Hase-und-Igel-Spiel zwischen Gutachter-Therapeuten und Transsexuellen hinaus. Mit jedem neuen Kriterium kann das objektivierte Subjekt sagen: "Auch gut, dann mache ich es eben so"- und rettet sich, indem es sich zum Subjektum, zum Unterworfenen macht. Die Subversion kultureller Grundannahmen, und seien es die, die Geschlechtszugehörigkeit regeln, läßt sich nicht stillstellen.

Die Faszination des somatischen Geschlechterfundamentalismus

"Transsexualität ist durch die dauerhafte innere Gewißheit, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen, gekennzeichnet. Dazu gehören die Ablehnung der körperlichen Merkmale des angeborenen Geschlechts und der mit dem biologischen Geschlecht verbundene n Rollenerwartungen sowie der Wunsch, durch hormonelle und chirurgische Maßnahmen soweit als möglich die körperliche Erscheinungsform des Identitätsgeschlechts anzunehmen und sozial und juristisch anerkannt im gewünschten Geschlecht zu leben" (Becker u. a. 1997:147). Da Becker u. a. durchaus die Nuancierung "und/oder" geläufig ist

(4), muß man davon ausgehen, daß Personen, die eine Veränderung des Körpers z. B. "nur" durch Hormone anstreben, nicht als Transsexuelle im Sinne der "Standards" gelten können. Von allen Veränderungen erhalten im weiteren einzig die Veränderungen des Körpers eine herausragende Stellung. Solange jemand ohne Veränderung des Körpers in der gewünschten Geschlechtsrolle lebt, braucht er/sie kein Gutachten. Im Gegenteil, die Übernahme der neuen Rolle ist Voraussetzung für das Gutachten und nicht das, wozu es berechtigt: die hormonelle (5) und operative Veränderung des Körpers. Daraus kann man schließen, daß die "Standards" nie geschrieben worden wären, wenn Transsexuelle nicht eine Veränderung des Körpers wünschen würden. Transsexuelle werden also einerseits definitorisch auf eine "hormonelle und chirurgische" (ebd.:147; Hervorheb.G.L.) Veränderung des Körpers festgelegt, andererseits sind es aber gerade diese Eingriffe, die es notwendig machen, Transsexuelle in ihrem eigenen Interesse zu begutachten bzw. zu diagnostizieren (vgl.ebd.:148). Als Haltung zu den Betroffenen ergibt sich daraus: Transsexuelle sind das, wovor sie bewahrt werden sollten. Nur wenn jemand aus Identitätsgründen nicht da vor bewahrt werden kann, sollte (muß?) sie/er sich den somatischen Prozeduren unterziehen.

Der in den "Standards" verfochtene somatische Fundamentalismus verweist auf die dritte der eingangs angeführten unkorrigierbaren Annahmen. Um legitim als Angehörige bzw. Angehöriger des einen Geschlechts leben zu können, darf der eigene Körper nicht dem Körper des anderen Geschlechts ähnlicher sein als dem Geschlecht, in dem man lebt. Transsexuelle, die als legitime Angehörige des jeweils anderen Geschlechts leben möchten, stehen damit vor einem massiven Problem: Sie müssen, wollen sie nicht dauernd mit VertreterInnen unserer kulturellen Standards - das sind im Zweifelsfall wir alle

(6) - einen Konflikt riskieren, ihren eigenen Körper verändern. Dabei ist es interessant zu sehen, daß sich Transsexuelle nicht unbedingt an einem somatischen Fundamentalismus orientieren, sondern an alltagspraktischen Erfordernissen. In den "Standards" wird nicht nur für die Seele, sondern auch für den Körper "innere Stimmigkeit" (ebd.:150) verpflichtend vorgeschrieben. Daraus ergibt sich z.B., daß transsexuelle Männer sich standardmäßig einer "Hysterektomie mit Exstirpation der Adnexe" unterziehen müssen. Daß es für viele transsexuelle Männer ausreicht, wenn die Menstruation aufgrund der Einnahme von männlichen Sexualhormonen sistiert und eine Brustplastik ihren Oberkörper in eine männliche Form gebracht hat, ist für Becker u.a. kein Grund, nicht trotzdem an der Hysterektomie festzuhalten. Eine Operation, die einzig dem Zweck dient, die Unfruchtbarkeit im Ausgangsgeschlecht dauerhaft sicherzustellen, empfinden viele transsexuelle Männer als lästigen und zum Teil destruktiven Eingriff, zu dem sie das TSG verpflichtet (vgl. Lindemann 1993: Kap.V.). Ohne diesen Zwang wäre z.B. die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß - in diesem Fall - männliche homosexuelle Paare das Monopol heterosexueller Fruchtbarkeit brechen könnten. Fruchtbarkeit im Ausgangsgeschlecht schließt für das TSG und offensichtlich auch für Becker u.a. die Zugehörigkeit im neuen Geschlecht aus. Eine derartig ubiquitäre Fixierung auf die operative Lösung der transsexuellen Irritation ist allerdings auch in der Sexualwissenschaft nicht Konsens (vgl. Sigusch 1991), bei der Formulierung der "Standards" hat sich allerdings eher die Position von Wille, Kröhn und Eicher (1981) durchgesetzt, die an der Transsexualität einer Person Zweifel hegen, wenn diese nicht darauf aus ist, sich Gebärmutter und/oder Eierstöcke und Vagina entfernen zu lassen.

Auch bei transsexuellen Frauen halte ich den Wunsch, den eigenen Körper operativ verändern zu lassen, nicht für derart allgemein, wie es die "Standards" als Definition vorgeben. Die alltagspraktischen Notwendigkeiten, mit denen transsexuelle Frauen irgendwie zurechtkommen müssen, ähneln in ihrer Konsequenz den Anschauungen über "innere Stimmigkeit" der Körper, die in den "Standards" formuliert werden. Allerdings erscheinen mir auch hier vorschnelle Vereinheitlichungen zweifelhaft. Zum einen gibt es in der Selbsthilfeliteratur immer wieder Artikel, die vor einer Überbewertung der Operation warnen und die Unterteilung in richtige Transsexuelle, die sich operieren lassen, und andere, die das nicht tun wollen, problematisieren (vgl. Mertens 1985). Zum anderen wäre hier auf die Ergebnisse ethnomethodologischer Studien hinzuweisen, die es nahelegen, daß eine Person ihr Geschlecht gar nicht allein haben kann, sondern daß Personen ein Geschlecht nur in Interaktion mit anderen sind (vgl. West und Zimmerman 1987; Hirschauer 1993; Lindemann 1994).

Wenn transsexuelle Frauen in weitaus stärkerem Ausmaß unter dem Zwang stehen, die äußeren Genitalien zu verändern, so verweist das einerseits auf sie selbst und andererseits auf diejenigen, mit denen sie einen Umgang pflegen, in dem Genitalien relevant werden. Es wäre also z.B. zu fragen, wie etwa nichttranssexuelle lesbische Frauen und heterosexuelle Männer damit umgehen können, daß ihre Geliebte Penis und Hoden statt Vulva und Vagina hat. Wer meint, transsexuelle Frauen davor bewahren zu müssen, sich operieren zu lassen, dürfte ihnen die Operation nicht per Definition vorschreiben, sondern er könnte Forschungen z. B. zur "Penisphobie" heterosexueller Männer durchführen. Wie sehr muß etwa ein heterosexueller Mann in seiner sexuellen und geschlechtlichen Identität gestört sein, wenn er mit Panik darauf reagiert, daß der Frau, mit der er sexuellen Kontakt hat, ein Penis angewachsen ist (vgl. hierzu Lindemann 1993: 212f.). Heterosexuelle Männer, deren sexuelle Identität bzw. Geschlechtsidentität zusammenbricht, wenn sie mit einer Frau mit "Penis" konfrontiert werden, wären dann ein Fall für den Psychiater. Das sind sie nicht, und es ist schwer vorstellbar, daß es überhaupt jemals der Fall sein wird. Sehr viel einleuchtender ist es dagegen, den sozialen Umgang mit körperlichen Symbolismen an denjenigen auszutragen, die über eine schwächere Lobby verfügen als heterosexuelle Männer: z. B. eben Transsexuellen. Statt Psychotherapie der Penisphobie von Männern die Zwangsoperation transsexueller Frauen. Oder sollte auch für diesen Problemzusammenhang gelten: "Behandlungskonzepte müssen der individuellen Entwicklung des jeweiligen Patienten gerecht werden, wobei die scheinbare Alternative 'körperliche Behandlungsmaßnahmen' versus 'psychotherapeutische Behandlung' zugunsten eines integrativen Ansatzes überwunden werden sollte" (Becker u. a. 1997:148)?

Resümee

In den "Standards" werden erfolgreich liberale Alternativen zugunsten eines "integrativen Ansatzes" (Becker u.a. 1997:148) überwunden, in dem die beiden bedeutendsten Zwänge, die die Transsexualität regulieren, verbindlich festgeschrieben werden. Der erste Zwang besteht in der Konstruktion einer biographisch gesicherten Identität im Rahmen der Zwangstherapie, wodurch es möglich und notwendig wird, das Faktum der Veränderung des Geschlechts zu verleugnen. Der zweite Zwang besteht in der Orientierung am somatischen Fundamentalismus: Die Operation wird in die Definition der Transsexualität eingeschrieben und damit für alle, die ihr Geschlecht verändern wollen, zur Pflicht gemacht. Die Alternative, die auf diese Weise vermieden wird, ließe sich so formulieren: Transsexuelle haben den Wunsch, ihr Geschlecht zu verändern. Um diesen Wunsch unter den Bedingungen dauerhafter Geschlechtszugehörigkeit und somatisch fundierter Zweigeschlechtlichkeit zu realisieren, ist aus alltagspraktischen Gründen eine Veränderung des Körpers zumindest hilfreich, wenn nicht unerläßlich. Mit ihrem Lebensproblem wenden sich Transsexuelle an die Medizin. Das unterscheidet sie nicht z.B. von Schwangeren, die eine Abtreibung vornehmen, oder von Frauen und Männern, die sich sterilisieren lass en möchten. Die Mediziner haben die Wahl: Entweder sie erkennen die Subjektivität und das Selbstbestimmungsrecht über den Körper derjenigen an, die sich an sie wenden. Oder sie maßen sich an, sich in die Entscheidung einzumischen, ob eine Frau eine Abtreibung vornimmt, ob eine transsexuelle Person Hormone einnimmt und sich operieren läßt usw.

Wem daran gelegen ist, daß der transsexuelle Wunsch, der die Majorität der Nichttranssexuellen extrem verunsichert, so standardisiert wie möglich erfüllt wird, der sollte sich an den "Standards" orientieren. Wem es dagegen Unbehagen bereitet, daß die Verunsicherungen von "uns", den Normalen, zu einer Zwangsvorstellung werden, die an einer Minderheit exekutiert werden muß, der könnte zu einer Reflexion auf die soziale Kontrolle der Geschlechtsveränderung kommen. Dann könnte der Versuch, die Transsexualität in die unkorrigierbaren Annahmen moderner Zweigeschlechtlichkeit zu integrieren, aufgegeben werden. An die Stelle von Zwangstherapie und Zwangsoperation könnte der selbstbestimmte Umgang von Transsexuellen mit ihrem Körper treten.

 

Anmerkungen

(1) "An incorrigible proposition is one which you would never admit to be false whatever happens: it therefore does not tell you what happens (...). The truth of an incorrigible proposition (...) is compatible with any and every conceivable state of affairs" (Gasking 1955, zit. nach Mehan und Wood 1975:9) In der Tradition der Ethnomethodologie sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von empirischcn Arbeiten zur Konstruktion von Geschlecht und zur Relevanz unkorrigierbarer Grundannahmen entstanden (vgl u .a. Garfinkel 1967; Kessler und McKenna 1978; West und Zimmerman 1987).

(2) Wenn ich mich auf die Personen beziehe, die die "Standards" verfaßt haben, oder die Gutachter-Therapeuten, die im Sinne der "Standards" soziale Kontrollen ausüben, verwende ich dem Selbstverständnis von Sophinette Becker u. a. (1997:155,Anm.1) folgend durchgängig die männliche Form. Da diese Form der Repräsentation des Allgemeinen durch die männliche Form konstitutiv ist für die moderne Geschlechterunterscheidung, die eine komplexe, Gleichheit simulierende Asymmetrie zwischen den Geschlechtern herstellt (vgl. Lindemann 1996), halte ich es ansonsten für angezeigt, dies nicht einfach zu reproduzieren.

(3) Stoller (1968) ist mit der Erfindung der "core gender identity" dieser Idee am konsequentesten gefolgt. Wenn der Körper einer Person ihrer "core gender identity" angepaßt wird, ist jeder Gedanke an die Möglichkeit einer Veränderung unmöglich.

(4) "Wegen der weitreichenden und irreversiblen Folgen hormoneller und/oder chirurgischer Transformationsmaßnahmen" (Becker u. a. 1997:148)

(5) Die Hormonbehandlung nimmt eine interessante Sonderstellung ein, insofern ihr ein Effekt zugeschrieben wird, der der Verführung zur Homosexualität vergleichbar ist: "Eine zu früh begonnene Hormonbehandlung kann die Diagnostik erschweren und eine ungünstige vorzeitige Festlegung bedeuten" (Becker u.a. 1997:152). Es ist auch interessant, die Stellung der Hormone in den "Standards" mit der in dem Behandlungsprogramm von Sigusch, Meyenburg und Reiche (1979) zu vergleichen. Becker u.a. stellen Hormone und Operation auf die gleiche Stufe, sie suggerieren damit, daß es sich um gleichermaßen schwere und irreversible Eingriffe handelt. Folglich muß der Einnahme von Testosteron bzw. Östrogenen/Gestagenen der Alltagstest und die Zwangstherapie vorgeschaltet werden. Sigusch, Meyenburg und Reiche legen es durch die Anordnung ihres Behandlungsprogramms dagegen nahe, daß der "Geschlechtsrollenwechsel", der dem Alltagstest entspricht, auch erst nach dem Beginn der Hormonbehandlung erfolgen kann. Selbst Autoren, die nicht gerade eine freundliche Haltung gegenüber dem Wunsch nach Geschlechtsveränderung eingenommen haben, konnten es 1979 noch ertragen, daß Transsexuelle etwas selbst bestimmen können, ohne das Einverständnis ihres Gutachters/Therapeuten dafür erreichen zu müssen.

(6) An diesem Punkt kann vermutlich kaum jemand aus dem genannten "Wir" ausgeschlossen werden: Ob hetero-, homo-, bi-, trans- oder sonstwie -sexuell - hier ist es "in", hier trifft man sich.

 

Literatur

Becker, Sophinette u. a.: Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft für Sexualwissenschaft. Z. Sexualforsch. 10,147-156, 1997

Garfinkel, Harold: Passing and the managed achievement of sexual status in an intersexed person, part 1. In: Ders.: Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1967

Hirschauer, Stefan: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993

Kessler, Suzanne J. and Wendy McKenna: Gender. An ethnomethodological approach. New York u. a.: Wiley 1978

Lindemann, Gesa: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt a.M.: Fischer 1993

Lindemann, Gesa: Die Konstruktion der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Konstruktion. In: Theresa Wobbe und Gesa Lindemann (Hrsg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994

Lindemann, Gesa: The body of gender difference. Eur. J. Women's Studies 3,341-361,1996

Mehan, Hugh and Houston Wood: The reality of ethomethodology. New York u.a.: Wiley 1975

Mertens, Cornelia: Transsexuelle Klassengesellschaft. TS-Journal 1, 24-25, 1985

Schmidt, Gunter: Kurze Entgegnung auf Volkmar Siguschs "Lob des Triebes". In: Martin Dannecker und Volkmar Sigusch (Hrsg.): Sexualtheorie und Sexualpolitik. Ergebnisse einer Tagung. Stuttgart: Enke 1984

Sigusch, Volkmar: Die Transsexuellen und unser nosomorpher Blick. Teil 1: Zur Enttotalisierung des Transsexualismus. Teil II: Zur Entpathologisierung des Transsexualismus. Z. Sexualforsch. 4, 225-256, 309-343, 1991

Sigusch, Volkmar, Bernd Meyenburg und Reimut Reiche: Transsexualität. In: Volkmar Sigusch (Hrsg.): Sexualität und Medizin. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1979

Stoller, Robert: Sex and gender. Vol. 1: The development of masculinity and femininity. New York: Aronson 1968

Stone, Sandy: The empire strikes back: A posttranssexual manifesto. In: Julia Epstein und Kristina Straub (eds.): Body guards. The cultural politics of gender ambiguity. New York, London: Routledge 1991

West, C. and D.H. Zimmerman: Doing gender. Gender and Society 1, 125-151, 1987

Wille, Reinhard, Wolfgang Kröhn und Wolf Eicher: Sexualmedizinische Anmerkungen zum Transsexuellengesetz. FamRZ, Heft 5, 418-420, 1981

 

Dr. phil. Gesa Lindemann,J.W. Goethe-Universität, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Robert-Mayer-Str. 5, 60054 Frankfurt am Main

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